Interview mit Prof. Thomas Lempert zur Vestibulären Migräne und Morbus Meniere (Schwindelexperte und Neurologe an der Schlosspark Klinik Berlin)

Hier nun also das versprochene Interview mit Prof. Thomas Lempert. Ich danke ihm für die Auskunftsbereitschaft und denke, da ist für jeden was Interessantes dabei 🙂 Die Fragen aus dem Forum hat er unten beantwortet.

Sehr geehrter Herr Prof. Lempert,
welche Symptome können bei einer Vestibulären Migräne auftreten?

Das ist sehr vielgestaltig. Bei starken Attacken gibt es oft Drehschwindel. Also ein echtes Karussellgefühl, auch mit bewegten Bildern vor den Augen. Manchmal ist es eher ein lageabhängiger Schwindel oder auch eine Kombination: Anhaltender Drehschwindel, der bei Lagewechsel noch mal stärker wird, zum Beispiel beim Hinlegen auf den Rücken oder auf die Seite. Und was oft dazu kommt oder bei leichteren Attacken das einzige Symptom sein kann, ist ein Kopfbewegungsschwindel. D.h. solange der Kopf ruhig gehalten werden kann, ist gar nicht viel los und bei Kopfbewegung kommt dann eine Schwindelwelle oder visueller Schwindel, sobald sich was in der Umwelt bewegt. Wenn z.B. etwas Bewegtes angeschaut wird, entsteht der Schwindel oder verstärkt sich der Schwindel.

Ist das dann eher eine Art Schwankschwindel?

Ja, das ist eher wie ein Schwank- oder Benommenheitsschwindel bei Kopfbewegung oder beim Anblick bewegter Dinge.

Nun habe ich in verschiedenen Foren öfter von Patienten gelesen, dass bei ihnen eine Migräne ausgeschlossen wurde. Kann denn eine Migräne – speziell die Vestibuläre Migräne – überhaupt ausgeschlossen werden?

Das läuft alles über die Anamnese, also die Befragung des Betroffenen. Gesichert wird die Diagnose Vestibuläre Migräne dann, wenn jemand migränetypische Kopfschmerzen hat. Nicht irgendwelche Kopfschmerzen, sondern welche die oft einseitig oder pulsierend sind oder wenn eine Licht- und Geräuschempfindlichkeit oder Übelkeit dabei ist.
Wenn jemand keine Migränekopfschmerzen hat, dann kann es natürlich immer noch ein Migräneschwindel sein, der zunächst mit Schwindel und erst im späteren Verlauf mit typischen Kopfschmerzattacken in Erscheinung tritt. Typischerweise haben die Leute aber erst ihre Migränekopfschmerzen und später im Leben tritt der Schwindel dazu. Aber davon gibt es Ausnahmen. Ausschließen kann man schwer sagen, weil es keinen apparativen beweisenden Befund oder Laborbefund gibt, der sagt, dieser Patient hat eine Migräne und dieser nicht. Das ist immer eine Sache der Befragung und nicht jeder muss das volle Spektrum der Symptome haben. Manche haben halt nur den Schwindel.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es bei der Vestibulären Migräne?

Bevor ich mit Patienten über Medikamente spreche, schaue ich erst mal in welcher Lebenssituation befindet sich der Patient und wie lässt sich vielleicht etwas an der Lebensweise verändern. Migräne ist eigentlich Ausdruck eines besonders empfindlichen Nervensystems. In Stressphasen, Belastungsphasen, bei Schlafmangel, unregelmäßiger Nahrungsaufnahme oder bei Flüssigkeitsmangel können Migräneattacken verstärkt in Erscheinung treten. Und wenn man sieht, dass jemand durch eine besondere Belastungsphase geht, schaut man welche Hilfsmöglichkeiten es gibt. Manchmal geht es darum, Entspannungstechniken zu lernen, manchmal geht es darum, bestimmte Anforderungen auch abzuwehren und zu sagen „Nein, diese Aufgabe übernehme ich jetzt nicht“ und dann hat man für seine Migräne schon viel Gutes getan.
Auch Leute, die keinen Ausdauersport treiben und dann damit anfangen, erleben oft, dass sie weniger Migräneattacken haben, sei es Migränekopfschmerz, sei es Migräneschwindel.
Das ist erst mal die Basis. Und dann guckt man im Einzelfall, ob es besondere Auslöser gibt. Manche Leute merken, dass ein Glas Wein am Abend schon reicht und am nächsten Tag werden sie mit einer Migräneattacke bestraft, auch mit Migräneschwindel. Dann hat man natürlich einen ganz speziellen Zugang über das Vermeiden der Auslöser.
Wenn das allein nicht reicht, denkt man über Medikamente nach. Leute, die sehr heftige akute Attacken mit Übelkeit oder Erbrechen haben, können überlegen, ob sie ein schwindeldämpfendes Medikament nehmen. Aber praktisch immer um den Preis, dass es sie auch müde macht, weil dies dämpfende Medikamente sind. Und wer z.B. leichten Schwindel hat und weiterarbeiten will, sollte schauen, dass er nur eine kleine Dosis eines Schwindelmedikamentes in der Akutphase nimmt. Wer ohnehin im Bett bleiben muss, weil es eine heftige Attacke ist und der Tag sowieso im Eimer ist, der kann auch ein kräftigeres Medikament mit einer höheren Dosis nehmen, um diesen Tag vielleicht im Bett zu verschlafen und die Übelkeit los zu sein.

Hat man denn die Chance mit der VM wieder ein halbwegs vernünftiges Leben zu führen oder ist das in der Regel ein Tropfen auf den heißen Stein?

Also das ist unterschiedlich von Patient zu Patient. Eines kommt in der Behandlung der Migräne noch hinzu: Das ist die Migräneprophylaxe. Wenn jemand häufige Attacken hat, die auch nicht leicht sind, dann macht man – genau wie bei einer Kopfschmerzmigräne – eine Prophylaxe mit bestimmten Medikamenten, die von Haus aus keine Kopfschmerz- oder Schwindelmedikamente sind. Zum Beispiel mit einem Betablocker aus der Kreislaufmedizin. Man erreicht dadurch oft einen Rückgang der Attacken um 50% oder mehr.

50%? Das ist ja schon eine hohe Zahl…

Nicht für jeden. Man kann sagen, dass bei jedem Medikament ungefähr die Hälfte der Patienten anspricht. Ansprechen heißt, dass mindestens 50% der Attacken weg sind, sonst lohnt sich das nicht und wäre unbedeutend.

Nun überlappen sich ja viele dieser Symptome mit dem Morbus Meniere. Wie kann man denn beide Krankheiten unterscheiden?

Die Überlappung wird deshalb nochmal schwieriger, weil Menierepatienten auch gehäuft während der Schwindelattacken Kopfschmerzen haben und oft sogar eine richtige Migräne haben. Der Unterschied ist der, dass bei der Meniere-Krankheit im Laufe der Zeit das Ohr kaputt geht, d.h. die Hörfunktion lässt nach, es gibt ein dauerhaftes Ohrgeräusch und oft auch ein Druckgefühl im Ohr. Am Anfang kommt es und geht es, aber über die Jahre wird ein bleibender Innenohrschaden daraus. Den entwickeln die Migränepatienten nicht – allenfalls eine leichtere Hörstörung, die auf beiden Ohren gleichmäßig ist. Beim Meniere jedoch ist das eine Ohr das schlechte und das andere dann in der Regel das gute oder deutlich bessere Ohr.

Die bleibende Hörminderung ist also das Hauptunterscheidungskriterium zum Meniere?

Die Hörminderung ist das Hauptunterscheidungskriterium zwischen den beiden Krankheiten. Und auch ausgeprägte Ohrsymptome auf einer Seite – das ist für den Meniere so typisch. Sobald jemand im Hörtest in der Audiometrie einen substantiellen Hörverlust auf einer Seite hat, vor allem wenn es den Tieftonbereich betrifft, dann deutet es in dieser Situation auf einen Meniere. Schwierig kann es im Anfangsstadium der Erkrankung sein, wenn ein Meniere die ersten ein- bis zwei Jahre noch keine Hörsymptome dabei hat und nur mit Schwindelattacken in Erscheinung tritt.

Gibt es denn bei der VM auch Hörstörungen oder ist das eher ungewöhnlich oder weniger?

Das wird von ungefähr einem Drittel der Patienten angegeben. Aber in geringerem Ausmaße. Der Meniere-Patient sagt „mein Ohr geht zu oder das fällt aus“ und hinterher erholt sich das langsam. Oder er sagt „Ich merke wenn die Attacke beginnt, da wird mein Ohrgeräusch lauter, dann klappt das Ohr zu und dann setzt der Drehschwindel ein“. Also da ist das Ohr ein Teil der Kerngeschichte und zwar auf einer Seite. Und ein Migränepatient sagt entweder gar nichts über seine Ohren oder er sagt „Ja, da kann auch ein bisschen Druck dabei sein und manchmal summt es auch so ein bisschen“, aber das ist deutlich geringer. Und wenn man über die Jahre die Patienten verfolgt, werden die Migränepatienten nicht hochgradig schwerhörig auf einer Seite.

Gibt es denn beim Meniere auch einen sogenannten Schwankschwindel oder ist das eher ein Kriterium, das bei der Vestibulären Migräne beobachtet wird?

Das ist bei der Migräne häufiger. Der Meniere hat fast immer ein klares Drehgefühl in der Attacke. Und auch, dass es durch Lagewechsel moduliert wird und durch visuelle Bewegungsreize – das ist alles eher der Migräne zuzuordnen.

Jetzt gibt es ja ein neues MRT-Verfahren, das den Hydrops beim Meniere nachweisen kann. Können sie da was zum Stand der Forschung sagen?

Ja, das ist noch nicht in die klinische Praxis eingeführt worden. Das machen wenige Forschungszentren. Es funktioniert am besten, wenn das Kontrastmittel in das Ohr einspritzt wird. Das kann man mit Routinepatienten jedoch nicht machen. Jetzt versucht man mit hohen Kontrastmitteldosen in die Vene den gleichen Effekt zu erzielen. Dann werden die Aufnahmen nicht ganz so genau und aussagekräftig, aber man kann tatsächlich darstellen, dass bei der Meniere-Krankheit einer der Flüssigkeitsräume im Innenohr überbläht ist. Das wäre bei der Vestibulären Migräne nicht zu erwarten. Es kann sein, dass dieses Verfahren in einigen Jahren dann so weit entwickelt ist, um es in die klinische Praxis einzuführen.

Viele Patienten leiden parallel zum Schwindel unter Muskelverspannungen. Sind Muskelverspannungen Ursache, Teil oder Folge der Vestibulären Migräne?

Das ist ein schwieriges Feld. Einmal ist es so: Leute mit Schwindel jedweder Art vermeiden oft Kopfbewegungen, weil diese den Schwindel verstärken und ganz unbewusst spannen sich die Nackenmuskeln an, um sozusagen den Kopf auf den Schultern zu blockieren. Und das führt dann wiederum zu Verspannungsbeschwerden. Das ist ein denkbarer Weg. Der andere ist, dass Migränepatienten oft schmerzempfindlich auch in anderen Körperpartien sind. Das ist Ausdruck eines überempfindlichen Nervensystems und deshalb findet man das häufig zusammen.
Und dann ist es auch noch so, dass die Kopfnerven – das ist das Trigenimussystem – in die Halswirbelsäule und in die Nackenmuskulatur hinunter reichen. Häufig wird deshalb ein Kopfschmerz im Nacken empfunden und ein Nackenschmerz kann in den Kopf ausstrahlen. Das heißt, Teil einer Migräneattacke können auch schon die Nackenschmerzen sein. Dass die Halswirbelsäule selber Schuld ist am Schwindel, denken viele Patienten, weil sie diese Kombination erleben, aber den direkten Zusammenhang, dass der Schmerz den Schwindel auslöst, gibt es wahrscheinlich nicht. Da gibt es eben diese Brücken, die ich versucht habe zu erklären.

Häufig entstehen die Schwindelattacken im Schlaf. Gibt es da Erkenntnisse inwieweit der Schlaf eine Rolle bei der Entstehung der VM spielt?

Also das ist für etliche Patienten so, aber keineswegs bei allen. Man weiß von der Kopfschmerzmigräne, dass gerade die Entspannungsphasen nach Stress oft Einfallstor für die Migräne sind. Deshalb gibt es den Begriff „Wochenendmigräne“. Und oft reicht die Entspannung des Nachtschlafes aus, um die Migräne durchbrechen zu lassen. Aber es gibt genauso oft Leute, die nach dem Aufwachen ihre Migräne haben wie es welche gibt, die sie erst zu Feierabend bekommen. Das sind Muster, die man bei einzelnen wiederfindet, die aber nicht mehrheitlich so sind.

Was ist der Unterschied zwischen Basilarismigräne und Vestibulärer Migräne?

Die Basilarismigräne hat noch mehr Symptome als die Vestibuläre Migräne. Das ist eine noch stärkere Migräneform. Manchmal ist z.B. eine Sprechstörung dabei oder Koordinierungsschwierigkeiten. Die Basilarismigräne ist ein älterer Begriff aus einer Zeit, als man sich um die Vestibuläre Migräne noch nicht so viele Gedanken gemacht hat. Nur etwa 5 Prozent der Patienten mit Vestibulärer Migräne haben im engeren Sinne auch eine Basilarismigräne, also diese noch schwerere Form. Es gibt eine Diskussion, ob man die Basilarismigräne wieder ad acta legt, weil sie sich so sehr überschneidet mit anderen Formen der Migräne.

Frage vom Forummitglied „mehlko“:
„Bei mir war das Gleichgewichtsystem auf einer Seite schon komplett weg und es hat sich wieder erholt. Dadurch sind die Anfälle wieder aufgetreten. Allerdings hat sich der Schwindel verändert. Aus Drehschwindel ist Schwankschwindel und ein tumarkin Anfall geworden. Meine Fragen wären nun, was man gegen diese tumarkin Anfälle machen kann. Ob das alles ein Zeichen vom „ausbrennen“ sein könnte und ob es Hinweise gibt, wie lange sowas dauert. Kann man was dagegen machen, daß sich das GG immer wieder aufs neue erholt? Welche Behandlung wäre evtl. sinnvoll?“

Man kann nicht sagen, dass es durch die Erholung kommt. Es ist richtig, dass beim Meniere – gerade beim fortgeschrittenen Meniere – manchmal Sturzattacken auftreten. Diese nennt man Tumarkin-Attacken. Die Betroffenen haut es plötzlich zu Boden und sie können überhaupt nichts dagegen tun. Das ist auch gefährlich und verletzungsträchtig. Zum Glück haben die meisten nur wenige dieser Tumarkinattacken. 3, 4 oder 5 – dann hört es auf. Häufig ist es ein Zeichen, dass die Erkrankung schon fortgeschritten ist und dass man dann irgendwann auch Ruhe hat. Wann der Meniere ausbrennt, ist sehr variabel. Bei manchem brennt es nach 5 Jahren aus und manche haben 20 Jahre oder sogar länger damit zu tun. Das kann man nicht genau vorhersagen. Und man kann das Ausbrennen nicht beschleunigen, außer man lässt das Gleichgewichtsorgan künstlich ausschalten. Das muss man heute nicht mehr mit einer Operation, sondern dies ist durch Einspritzen von Gentamicin möglich. Das ist ein Antibiotikum, das das Innenohr schädigt. Das Gleichgewichtsorgan (nicht aber das Hörorgan) wird so geschädigt, dass keine Schwindelattacken mehr auftreten. Die Hörfunktion bleibt, wie sie war.

Frage vom Forummitglied „Sturmi“:
“Kannst du ihn fragen, ob bei einer Vestibularneurektomie (1999) es noch Sinn macht, das Gleichgewicht immer wieder zu trainieren. Und ob man, bei einem spezifischen Training mit Augen zu, eine Verbesserung in der Dunkelheit noch erzielen kann (ich fühle mich ja in der Dunkelheit sehr schwindlig). Oder ist das nach so vielen Jahren zwecklos und verlorene Zeit. Und ich zu denen gehöre, wo das Gehirn aus irgendeinem nicht erklärbaren Grund nicht richtig kompensiert. Und was er von der Diagnose atypischer Morbus Meniere hält?”

Ein physiotherapeutisch angeleitetes Gleichgewichtstraining kann auch Jahre nach einem einseitigen Ausfall des Gleichgewichtsorgans (wie z.B. nach Neurektomie) etwas bringen, wenn täglich selbst geübt wird und dann nach und nach sportliche Aktivität dazukommt, am besten sind Ballsportarten und Tischtennis. Übungen mit geschlossenen Augen sind ein wichtiger Teil. Bewusstes Spüren der Füße und Beine verbessert dabei die Gleichgewichtsregulation über die Beinnerven. Atypischer Meniere ist ein unscharfer Begriff, der viele Fragen offen lässt. Ist es ein Meniere, nur dass die Symptome etwas atypisch sind, dann würde man es wie einen Meniere behandeln. Oder ist es eine andere Erkrankung, die bislang nicht diagnostiziert wurde? Das sollte der behandelnde HNO-Arzt erklären können.

Frage vom Forummitglied „Pumukel“:
“Mich würde ja doch noch interessieren, ob dieser „berüchtigte“ Hydrops wirklich eine Diagnose für M.Meniere ist, ohne z.b die typische Trias, oder ob es sich bei einem Hydrops genausogut um eine vestibuläre Migräne handeln könnte?”

Der Hydrops also der Überdruck im Endolymphraum des Innenohrs, findet sich bei den meisten Menierepatienten und fast nie bei anderen Schwindelerkrankungen. Er ist also ein Merkmal der Erkrankung, ohne dass genau klar ist, ob er eher eine Begleiterscheinung oder wirklich Ursache des Schwindels ist. Bei vestibulärer Migräne scheint er keine Rolle zu spielen. Umfassende Untersuchungen dazu fehlen allerdings noch. Manche Patienten mit Morbus Meniere haben nicht die volle Trias, weil es Jahre dauern kann bis sich alle typischen Symptome zeigen. Wenn das Ohr schon ertaubt ist, wenn zum ersten mal Schwindel auftritt, kann es dann auch keine großen Schwankungen im Hörvermögen mehr geben.

Vielen Dank für das Interview.